Ich jogge nun schon seit einem Jahr. Der Unterschied dazwischen, ob ich alleine laufe oder mit Menschen gemeinsam ist gewaltig.
Wenn ich alleine laufe bin ich mir meiner Anstrengung sehr bewusst. Ich strenge mich an und nehme in jedem Moment wahr, wie viel mir noch von der Strecke übrigbleibt und ob ich noch genug Energie habe. Ich bin nicht im Flow und fühle mich wie ein kantiger Stein, der versucht von alleine den Berg hochzusteigen. Wann bin ich am Ziel? Wie lange noch? Gedanken, die mir in Sekundenschnelle durch den Kopf sprudeln, während ich mich pushe und pushe und weiter pushe, um nur noch ein wenig länger auszuhalten, um endlich am Ziel anzukommen und die Strecke erfolgreich zu schaffen.
Heute hatte ich eine etwas andere Erfahrung. Ich bin mit meiner Schwester zusammen gejoggt, wir sind die gesamte große Runde ohne Pause und in schnellem Tempo durchgelaufen und es war ein purer Genuss. Ich war im Flow und der Unterschied zu den vorherigen Malen war gewaltig. Kaum vergleichbar.
Während wir nebeneinander herliefen habe ich mich so gefühlt, als ob ich im Cockpit meines Körpers sitze, auf einer Liege sitze, die Natur genieße und meinen Körper für mich arbeiten lasse. Mein Körper hat sich einfach bewegt, Schritt für Schritt und ich habe mich zurückgelehnt und genossen was in dem Moment passiert. Ohne aktive Anstrengung. Ohne, dass ich mir ständig der verbleibenden Strecke bewusst war und jede Sekunde zählte, bis ich am Ziel ankam.
Der Auslöser für diesen gewaltigen Unterschied in der Wahrnehmung des Prozesses war das gemeinsame Joggen mit einer anderen Person. Und dieses Phänomen lässt sich in meinem Leben auch auf andere Aktivitäten anwenden. Oft, wenn ich etwas alleine mache, entsteht eine obsessive Fokussierung auf das Ziel:
- Ich schreibe meine Bachelorarbeit, um in ein paar Wochen meinen Abschluss zu haben
- Ich gehe joggen, weil es gut für den Körper ist sich zu bewegen und ich mich danach fit fühle
- Ich inszeniere das Stück, weil ich an der Regie-Uni angenommen werden will
- Ich lerne für die Klausur, weil ich bestehen möchte und mein Studium beenden will
Die Gründe für viele meiner Handlungen liegen in einer bestimmten Absicht, die auf das Eintreffen eines bestimmten Ergebnisses zielt, nicht jedoch auf den Prozess an sich. Mein Kopf erschafft ein sehr sinnvolles Warum für die Aktivität, vergisst jedoch dabei, dass der Prozess (und nicht das Erreichen des Ziels) 99% der Zeit ausmacht. Der Zustand der Erreichung des Ziels ist mir ständig sehr bewusst und das Eintreffen meiner Vorstellung wird mit einer großen Erleichterung verbunden. „Wenn ich meine Bachelorarbeit abgegeben habe, kann ich endlich…“.
Dabei nehme ich in Kauf mich, meinen Körper, meine Leidenschaften, meine Freunde, meine Interessen und vieles andere zu vernachlässigen und aufzuschieben bis ich dieses ferne Ziel endlich erreicht habe, nur um dann zu merken, dass sich kaum was ändert. Die gewünschte Erleichterung oder Freude blinkt vielleicht für einen kurzen Moment auf, bevor sie im nächsten Augenblick wieder verfliegt und Platz für den nächsten Berg an Zielen macht.
Was ist die Alternative?
In der chinesischen Philosophie des Taoismus (Lehre des Weges) gibt es das Prinzip Wu-Wei. Wu-Wei steht für den Zustand des Nicht-Handelns. Das bedeutet Resultate und Ziele nicht obsessiv zu erzwingen, sondern vom erwünschten Ergebnis loszulassen und sich dem momentanen Prozess völlig hinzugeben. Im Englischen wird das Konzept auch oft als „the art of not trying“ übersetzt, was ich etwas präziser und schöner finde. Auf deutsch übersetzt bedeutet es „die Kunst des nicht-Versuchens“. Dabei starte ich mit einer Tätigkeit und fokussiere mich mit all meiner Aufmerksamkeit auf diese, statt zwanghaft über das Ziel und das Fertigwerden nachzudenken. Die Idee ist, dass wir das Ergebnis im Prozess überhaupt nicht kontrollieren und beeinflussen können. Es ist eine unglaubliche Erleichterung, wenn ich keine Erwartungen an das Ergebnis knüpfe und einfach mal mache und akzeptieren kann, dass es auch schlecht werden kann.
Als ich heute joggen war, wurde mir die Essenz von Wu-Wei plötzlich sehr bewusst, weil ich intensiv wahrnehmen konnte, wie ich mich nicht anstrenge, sondern mich den Bewegungen hingebe. Wu-Wei wird bei mir verstärkt, wenn ich Tätigkeiten mit Menschen zusammen mache und nicht alleine. Wenn ich alleine etwas erschaffe, wie z.B. eine Bachelorarbeit oder eine Inszenierung und das Ergebnis von anderen Menschen beurteilt oder bewertet werden kann, dann entsteht bei mir eine enorme Angst ein Resultat zu erzielen, das von den Menschen als schlecht bewertet wird.
Jeden Satz, den ich dann aufs Blatt bringe, kommt aus einem zitternden angstvollen Ort. Bloß nicht etwas Falsches oder Schlechtes schreiben. Diese Einstellung killt für mich jegliche Kreativität, Leidenschaft und Lust und führt dazu, dass der Prozess anstrengend, ängstlich und einfach nur demotivierend ist. Wenn ich zum Schluss dann etwas habe, hänge ich den Menschen, die es beurteilen sabbernd an den Lippen und schreie angstvoll nach Bestätigung.
Wenn ein Kind Dinge erschafft, sagt, malt und spielt dann existiert für das Kind kein Ziel. Das Kind macht es nicht, um ein Ziel zu erreichen, sondern macht es, weil der Prozess Spaß macht. Es schmeißt mit Farben um sich, kritzelt drauf los, springt und spielt, schreibt Sätze, spielt Videospiele und drückt sich so aus. Es ist ein natürlicher Prozess, der in der menschlichen Natur liegt. Ausdruck bedeutet nicht etwas zu produzieren, das sich gut vermarkten lässt oder was andere Menschen als qualitativ hochwertig bezeichnen. Ausdruck ist ein Sprung ins kalte Wasser, der außerhalb von gut und schlecht ist. Einfach starten, ohne etwas zu wollen, ohne eine Absicht zu haben. Einfach dem Fluss des Moments und des Körpers folgen und schauen, an welchem Ufer man ankommt, um sich hinzulegen und die Sonne zu genießen.
Ich habe vergessen, was es bedeutet ein Kind zu sein und sich frei auszudrücken. Dieser kindliche Ausdruck, der dem Fluss des Moments folgt, abgetrennt vom Resultat ist und wie ein Feuerwerk von Farben aus dem Körper hinauspulsiert ist für mich die Essenz von Wu-Wei und ein Zustand, den ich wieder erlernen möchte.